Wie können psychische Belastungen bei der Arbeit reduziert werden? Ein Gespräch mit Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), und Prof. Dr. Dirk Windemuth, Leiter des Instituts für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG).
Frau Rothe, die BAuA hat eine wissenschaftliche Standortbestimmung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt vorgelegt. Sie identifizieren darin auch "Schlüsselfaktoren" für die Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeit. Welche sind das?
ROTHE: Unter Schlüsselfaktoren verstehen wir zum einen zentrale arbeitsbezogene Ressourcen. Diese sind grundsätzlich geeignet, den Beschäftigten die Bewältigung ihrer Arbeitsanforderungen zu erleichtern, indem sie ihnen beispielsweise Gestaltungsspielräume bei der Aufgabenerledigung eröffnen oder durch gute operative Führung und kollegiale Zusammenarbeit unmittelbare Unterstützung bieten. Sie eröffnen zudem Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Schlüsselfaktoren sind aber auch Anforderungen, die bei bestimmten Ausprägungen und ab einer gewissen Dauer, zu hoher Belastung und letztlich gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können. Dieses sind beispielsweise überlange Arbeitszeiten oder eine sehr hohe Arbeitsintensität, die eine dominante Wirkung auf die gesamte Arbeitssituation ausüben können, und somit arbeitsbezogene Ressourcen möglicherweise zunichtemachen.
Herr Windemuth, die DGUV hat ein anderes Wording. Sie spricht von psychischen Belastungen, weniger von psychischer Gesundheit. Können Sie diesen Unterschied erklären? Lassen sich aus den von der BAuA diagnostizierten Faktoren trotzdem Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten für die Unfallversicherung ableiten?
WINDEMUTH: Die Studie der BAuA ist für die Unfallversicherung eine enorme Hilfe, sowohl was die Schlüsselfaktoren als auch die zahlreichen Einzelbefunde anbelangt. Für uns ist es aus mehreren Gründen aber sinnvoll, das Thema auch in der Begrifflichkeit umfassender anzugehen und von "psychischen Belastungen und Gesundheit" zu sprechen. Es geht ja nicht nur um die Abwesenheit von psychischen Erkrankungen, was mit "psychischer Gesundheit" umschrieben wird. Auch die Bedeutung von psychischen Belastungen für die Entstehung von körperlichen Erkrankungen, die sogenannte Psychosomatik, und für die Verursachung von Unfällen ist relevant. Langzeitstudien bestätigen: Bestimmte psychische Fehlbelastungen erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ebenso wie das Risiko für Rückenprobleme. Auch ist - nur als Beispiel - gut belegt, dass sich das Risiko für einen Verkehrsunfall sehr stark erhöht, wenn die Person am Steuer nach einem Telefonat im Auto emotional aufgewühlt ist. Wenn wir nur von "psychischer Gesundheit" sprechen, können diese wichtigen Aspekte - Sicherheit und körperliche Erkrankungen - verloren gehen. Ein weiteres Argument ist, dass psychische Belastungen und psychische Erkrankungen häufig miteinander verbunden werden. Die Medien nutzen sie manchmal synonym. Das macht es schwierig, das Thema psychische Belastungen in Betrieben zu verankern. Beschäftigte bekommen Angst, dass es bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung um eine persönliche Psychodiagnostik geht - was natürlich abschreckend, aber auch völlig falsch ist.
Frau Rothe, die Studie weist auf ein Missverhältnis hin: Immer häufiger sind psychische Belastungen ein Grund für Arbeitsunfähigkeit, aber die Betriebe tun sich schwer damit, darauf zu reagieren. Nur gut 20 Prozent beziehen das Thema in ihre Gefährdungsbeurteilung mit ein. Wo liegen die Probleme?
ROTHE: Arbeitsunfähigkeitstage und Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer und Verhaltensstörungen haben in der Tat in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen. Es ist allerdings aufgrund vorliegender Daten, beispielsweise des Robert-Koch-Instituts, durchaus Vorsicht bei der Interpretation angebracht. Es spricht einiges dafür, dass nicht das Erkrankungsgeschehen selbst zugenommen hat, sondern Krankschreibungen schneller erfolgen. Wir müssen uns daher fragen, ob möglicherweise bereits leichtere Phasen psychischer Beeinträchtigung - ob aus dem privaten oder dem beruflichen Kontext mit verursacht - zu Krankschreibungen führen, weil die betriebliche Praxis sich schwerer tut, die betroffenen Menschen zu integrieren. Wir haben daher unsere Forschungsperspektive über die Primärprävention hinaus auch auf die Sekundär- und Tertiärprävention erweitert, beispielsweise indem wir Möglichkeiten der betrieblichen Unterstützung sowie der betrieblichen Wiedereingliederung zum Thema machen. Um aber auf die Gefährdungsbeurteilungen zurückzukommen: Ja, diese greifen natürlich viel zu selten psychische Arbeitsbedingungsfaktoren auf. Und wenn sie es tun, so bleiben sie allzu häufig bei der Analyse stecken, Maßnahmen hinge-gen werden nicht entwickelt und umgesetzt. Unseres Erachtens gibt es drei systematische Ursachen für dieses Defizit: Erstens - Herr Windemuth hat es bereits erwähnt - assoziieren Betriebe und Belegschaften nach wie vor psychische Er-krankungen, wenn es um die Analyse und Gestaltung von Arbeit unter dem Aspekt psychischer Belastungsfaktoren geht. Dies erhöht unnötig die Hemmschwelle. Hier sollten wir das Thema und die Rolle von Sicherheit und Gesundheit noch besser erklären. Zweitens tun sich die Arbeitsschützer und Arbeitsschützerinnen bisweilen schwer, wenn sich die Faktoren nicht unabhängig von den Personen oder an Grenzwerten orientiert festmachen lassen, sondern so manches im Dialog mit den Beschäftigten konkretisiert und er- arbeitet werden muss. Hier gilt es, das Methodenrepertoire zu erweitern. Am wichtigsten ist mir aber der dritte Punkt: Um Maßnahmen entwickeln zu können, braucht es Gestaltungsziele und Orientierungen, die über die Analyse der Arbeitssituation hinausgehen. Wir plädieren dafür, gemeinsam mit Sozialpartnern, Trägern des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie der Wissenschaft, mehr tätigkeitsspezifische Leitbilder gut gestalteter Arbeit hierfür zur Verfügung zu stellen.
Herr Windemuth, die gesetzliche Unfallversicherung, auch Ihr Institut, hat ja bereits Handlungshilfen veröffentlicht, wie das Thema in die Gefährdungsbeurteilung integriert werden kann. Offenbar noch nicht mit durchschlagendem Erfolg. Was sollte die Unfallversicherung weiter tun, um die Unternehmen zu unterstützen?
WINDEMUTH: Grundsätzlich ist es zuerst wichtig, das Thema zu versachlichen, um die Akzeptanz dafür in den Betrieben weiter zu steigern. Es ist noch längst nicht in allen Branchen angekommen und oft noch mit Tabus belegt. Für die Versachlichung ist die Studie der BAuA eine hervorragende Basis. Sie verdeutlicht die Relevanz der psychischen Belastungen für Sicherheit und Gesundheit. Die Versachlichung beginnt dann mit der richtigen Wort- und Themenwahl, wie ich eben schon sagte. Wir müssen aber auch deutlich machen, dass psychische Belastungen zwar arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren sein können, nicht aber gleich eine Krankheit verursachen. Darüber hinaus benötigen die Betriebe ganz konkrete Hilfe vor Ort. Die besteht nicht darin, noch weitere Instrumente für die Gefährdungsbeurteilung zu entwickeln oder noch mehr Broschüren. Hier hilft nur die konkrete Hilfe, zum Beispiel in Form von Beratung. Dies fordern auch die Sozialpartner. Wer das leisten kann, muss geprüft werden. Berufsgenossenschaften und Unfallkassen sind sicher an erster Stelle zu nennen, weil dort erfahrene Fachleute für die Betriebe arbeiten. Da diese aber nicht überall sein können, sind auch externe Beratungsunternehmen wichtig. Für diese müssen Qualitätskriterien entwickelt und vorgegeben werden, die den Betrieben bei der Wahl externer Partner helfen.
Frau Rothe, Führungskräfte haben unterschiedlich großen Einfluss darauf, wie mit psychischen Belastungen im Betrieb umgegangen wird. Sie haben auch eine Vorbildfunktion. Was empfehlen Sie Führungskräften, um die psychische Gesundheit in ihrem Betrieb positiv zu beeinflussen?
ROTHE: Das Allerwichtigste ist, dass die direkten Führungskräfte für ihre Beschäftigten ansprechbar sind und auf eine faire Arbeitsverteilung, Arbeitszeitplanung und eine zeitnahe Problemlösung, etwa bei Überforderungssituationen, hinwirken. In Zeiten großer organisationaler Unsicherheit, etwa bei umfangreichen Reorganisationen ist es zudem wichtig, dass sie ihren Teams eine gewisse Stabilität, unter anderem durch angemessene Informationen, bieten können. Allerdings ist dies alles ja nicht nur eine Frage der richtigen Haltung oder des richtigen Führungsstils, sondern auch der Kompetenzen und Spielräume der Führungskräfte. Diese haben selbst oft eine zu volle Agenda, zu große Führungsspannen oder wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Daher werben wir dafür, die Arbeitsbedingungen der Führungskräfte selbst, auch in ihrer Rolle bei der Gestaltung guter Arbeitsbedingungen, auf die Agenda von Sicherheit und Gesundheit zu setzen und organisationale Codices für gute Führung und deren Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und zu verbreiten.
Herr Windemuth, auch die gesetzliche Unfallversicherung hat das Thema Führung als Handlungsfeld identifiziert. Es ist ein Thema der nächsten Präventionskampagne, die am 18. Oktober in Düsseldorf startet. Welche Unterstützung bietet die Kampagne dieser Zielgruppe?
WINDEMUTH: Thema der Kampagne ist die Kultur der Prävention, also der Stellenwert, den Sicherheit und Gesundheit in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen haben. Leitung und Führungskräfte können diesen Stellenwert entscheidend beeinflussen. Die Kampagne möchte diese Zielgruppe deshalb besonders für das Thema sensibilisieren und vielfältige Handlungshilfen zur Verfügung stellen, die von den Betrieben genutzt werden können, um die Kultur der Prävention weiterzuentwickeln. Führungskräfte sollen vor allem angeregt werden, das Know-how und die Erfahrungen der Beschäftigten in diesem Themenfeld intensiv zu nutzen und ein Klima zu schaffen, in dem alle aktiv zur Förderung von Sicherheit und Gesundheit beitragen. Das wirkt sich im Sinne von Ressourcen auch positiv auf die psychischen Belastungen aus.
Frau Rothe, Ihre Publikation endet mit zehn Empfehlungen. Wir können an dieser Stelle nicht auf alle eingehen. Was ist für Sie persönlich von zentraler Bedeutung?
ROTHE: Über die zentrale Rolle der Führungskräfte hatten wir bereits gesprochen. Unbedingt zu nennen ist des Weiteren die Gestaltung von Arbeit und Erholung. Diese erfordert eine Perspektiverweiterung über den Arbeitstag hinaus, indem wir auch die Frage nach dem "Abschaltenkönnen" nach der Arbeit und dessen Voraussetzungen stellen. Wir müssen auch die Rahmenbedingungen für die Work-Life-Balance thematisieren, zum Beispiel die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeiten. Mir ist auch eine Weiterentwicklung des "klassischen Arbeitsschutzes" wichtig. Ich bin beispielsweise fest davon überzeugt, dass unsere Profis vor Ort technische Faktoren auch hinsichtlich möglicher psychischer Wirkungen beziehungsweise Stress bewerten können und sollten – etwa hinsichtlich der extraauralen Lärmwirkungen. Nicht zuletzt, und da bin ich ganz und gar einverstanden mit der Philosophie der Präventionskampagne: Es geht darum, den Beschäftigten mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit zuzugestehen, und dafür entsprechende Prozesse - bei Unterstützung durch Fachleute - zu etablieren.
Herr Windemuth, warum ist der eigene Gestaltungsspielraum so wichtig?
WINDEMUTH: Gestaltungs- oder Handlungsspielraum ist wichtig, um Stress vorzubeugen, Menschen zu motivieren und ihre Zufriedenheit mit der Arbeit und mit sich selbst insgesamt zu steigern. Insbesondere dann, wenn jemand viel Verantwortung trägt, aber keine Entscheidung selbst treffen darf, wird die Verantwortung zur Last. Schließlich müsste er oder sie dann ja auch Entscheidungen verantworten, die er oder sie nicht richtig findet. Insofern gelingt es durch Handlungsspielraum, einerseits Stress vorzubeugen, andererseits Ressourcen aufzubauen. Diese Ressourcen wirken dann schützend, wenn es aus anderen Gründen mal stressig wird. Stressoren sind immer dann leichter zu verarbeiten, wenn die betroffene Person Kontrolle über den Stress auslösenden Reiz hat - das gilt sogar für Reize, die Schmerz auslösen. Wenn der Zahnarzt anbietet, bei Schmerzen durch die Behandlung eine Pause einzulegen, tut das Bohren schon gar nicht mehr so weh. Genauso ist es am Arbeitsplatz: Eigene Entscheidungen, eigene Kontrolle machen das Leben leichter.
Die Studie "Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt" kann auf der Website der BAuA kostenlos heruntergeladen werden: www.baua.de/psychische-gesundheit
Die Studie "Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt" kann auf der Website der BAuA kostenlos heruntergeladen werden: www.baua.de/psychische-gesundheit