Michael Stock, Geschäftsführer der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen
Bild: Bernd Naurath
Die Unfallkasse NRW ist mit rund 8 Millionen Versicherten die größte Unfallkasse der öffentlichen Hand. Bei ihr sind Angestellte und Arbeiter von Kommunen, Kreisen, Städten und sonstigen öffentlichen Einrichtungen, Kinder in Kitas und Kindergärten, alle Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen in NRW, Studierende sowie ehrenamtlich Tätige versichert. Michael Stock spricht im Interview über aktuelle und zukünftige Herausforderungen für die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen.
Herr Stock, Sie sind nun seit knapp anderthalb Jahren Geschäftsführer der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, zuvor waren Sie viele Jahre Bürgermeister der Stadt Wegberg. Was hat Sie bewogen, diesen Wechsel zu vollziehen?
Für mich stellte sich nach neun Jahren Bürgermeisteramt die Frage, welche anderen spannenden Herausforderungen es sonst noch gibt. Und dann hatte ich das große Glück, dass mir die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (UK NRW), die ich bereits aus meiner Vorstandsarbeit in der Selbstverwaltung kannte, eine tolle neue Aufgabe zugetraut hat.
Was den Beruf des Geschäftsführers einer Unfallkasse für mich so besonders macht, ist vor allem die Tiefe und Fokussierung der Aufgabe. Wenn man – wie ich zuvor als Bürgermeister – in einem sehr breit gefächerten Aufgabenfeld tätig war, das vom Schulbau über Verwaltung bis hin zum Bau einer Feuerwache reicht, ist jeder Tag voller Überraschungen. Mancher mag auf den ersten Blick denken, der Wechsel in einen spezialisierten Bereich wie die gesetzliche Unfallversicherung sei ein Schritt zurück. Für mich war es das Gegenteil: ein bewusster Schritt nach vorn.
Bei der Unfallkasse NRW arbeiten Menschen, die hoch motiviert sind, für unsere Versicherten das Beste zu erreichen. Und durch die Spezialisierung auf genau diese Zielgruppe – Beschäftigte in Kommunen, Menschen in Kitas, Schulen, bei der Feuerwehr, in der Abfallwirtschaft – gelingt es uns, tiefergehend zu wirken. Diese Heterogenität erfordert ein breites, fachlich vielseitiges Präventionsangebot und stellt uns vor die Herausforderung, uns als Unfallkasse entsprechend breit und flexibel aufzustellen. Wir müssen keine Kompromisse für viele Themen gleichzeitig finden, sondern können uns gezielt auf die Verbesserung der Sicherheit und Gesundheit dieser Versicherten konzentrieren.
In der Kommunalpolitik trug ich Verantwortung für rund 30.000 Bürgerinnen und Bürger. Heute sind es über 8 Millionen Versicherte in der „weltweit größten Unfallkasse“. Diese Zahl zeigt nicht nur die Dimension, sondern auch die Verantwortung, die mit der Rolle verbunden ist – und sie motiviert mich jeden Tag aufs Neue. Es ist diese Mischung aus inhaltlicher Tiefe, direktem gesellschaftlichem Nutzen und der Möglichkeit, spürbar etwas zu bewegen, die diesen Beruf so besonders macht.
Wie würden Sie ihre bisherigen Erfahrungen bei der Unfallkasse kurz beschreiben?
Die Aufgaben als Geschäftsführer sind vielseitig und spannend – sie reichen von der Prävention über die Rehabilitation bis hin zur Entschädigung. Besonders in schwierigen Lebensphasen, zum Beispiel nach einem Unfall, tragen wir als Unfallkasse große Verantwortung für unsere Versicherten in Schule, Kita oder Beruf.
Prävention hat für mich dabei höchste Priorität: Unfälle und berufsbedingte Erkrankungen gar nicht erst entstehen zu lassen, ist ein Ziel, das mich täglich motiviert. Zugleich braucht es gute politische Rahmenbedingungen – deshalb setze ich mich für die Interessen der Unfallversicherungsträger ein. In den letzten anderthalb Jahren war es mir wichtig, alle Facetten der DGUV, ihrer Institute und der Träger kennenzulernen. Besonders beeindruckt, bei meinem Besuch des IPA hat mich die große Bandbreite der medizinisch-wissenschaftlichen Forschung, die sich konsequent an den Bedürfnissen der Unfallversicherungsträger ausrichtet.
Wo sehen Sie zurzeit die größten Herausforderungen für die UK NRW?
Hier kann ich nur einige mir besonders wichtige Punkte herausstellen, die mit Sicherheit nicht abschließend sind, aber die aus Sicht der Unfallkasse NRW aktuell unser Handeln mitbestimmen.
Der demografische Wandel stellt die Unfallkasse NRW vor große Herausforderungen – sowohl intern durch den altersbedingten Umbruch in der Belegschaft als auch extern durch die veränderten Bedürfnisse älter werdender Versicherter. Damit verschieben sich sowohl die Belastungen im Arbeitsalltag als auch die Anforderungen an Prävention, Rehabilitation und Versorgung. Wir müssen unsere Leistungen stärker auf ältere Beschäftigte zuschneiden und auch die Kommunikation neu denken. Die demografische Entwicklung ist also ein Megatrend, auf den wir strategisch und operativ reagieren müssen.
Zusätzlich bereiten mir weltpolitische Entwicklungen wie der Aufstieg populistischer Parteien Sorgen, da sie auch Auswirkungen auf die Sicherheit und Stabilität in Deutschland und Europa haben. Die Unfallversicherungsträger sind in der Verantwortung, sich klar zur Demokratie zu bekennen und ihre Rolle als tragende Säule des Sozialstaats aktiv wahrzunehmen. Angesichts von Fake News, die unsere Sozialen Medien überschwemmen, ist es wichtig, hier mit unabhängiger Forschung ein Gegengewicht zu bilden.
Der massive finanzielle Druck auf die öffentlichen Haushalte, der sowohl die Präventionsarbeit als auch die Beitragsstruktur der gesetzlichen Unfallversicherung zunehmend belastet, fordert uns ebenfalls sehr. Allerdings sei hier der Hinweis erlaubt, dass Studien unter anderem der DGUV gezeigt haben, dass sich die Investitionen in Sicherheit und Gesundheit – also die Ausgaben für präventive Maßnahmen lohnen.
Die daraus resultierenden positiven Effekte – etwa in Form von weniger Unfällen, geringeren Krankheitskosten und weniger Berufskrankheiten – machen sich in jedem Fall mehr als bezahlt. Danach erbringt jeder in die Prävention investierte Euro durchschnittlich einen Rückfluss von 2,20 Euro.
Nicht vergessen werden darf der Klimawandel als eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Hier sind wir als Unfallkasse gefordert. Allerdings gerät das Thema zunehmend aufgrund der vorgenannten politischen Krisen aus dem Fokus. Nichtsdestotrotz bedeutet das für uns als Unfallkasse, präventive Maßnahmen müssen angepasst werden und Arbeitsbedingungen sind neu zu bewerten, um den Schutz der Versicherten auch unter veränderten klimatischen Bedingungen sicherzustellen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine Forschung, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Ich denke da an die aktuellen Projekte aus dem IPA zur Quantifizierung der arbeitsplatzbezogenen Belastung durch Hitze sowie die Aufnahme von UV-Filtern bei Outdoor-Beschäftigten. Dies betrifft auch Versicherte der UK NRW. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Klimawandel und berufliche Allergien“, bei dem es um die Beratung der Unfallversicherungsträger und die Herstellung maßgeschneiderter Diagnostika für allergische Erkrankungen geht, die durch veränderte Umwelt-, Arbeits- und Produktionsbedingungen infolge des Klimawandels auftreten können.
Vor dem Hintergrund der Reform des Berufskrankheitenrechts gewinnt die Individualprävention zunehmend an Bedeutung. Menschen unterscheiden sich in ihrer körperlichen Konstitution, ihrer Lebensrealität und ihren Risikoprofilen. Eine pauschale Prävention stößt hier an Grenzen. Vielmehr brauchen wir ein differenzierteres Vorgehen, das aktuelle Forschungsergebnisse integriert.
Das IPA leistet hier, gerade auch im Hinblick auf sogenannte suszeptible Versichertengruppen – wie Versicherte mit Vorerkrankungen, Allergiker und Allergikerinnen, immungeschwächte Personen, mit seiner Forschung einen wichtigen Beitrag für die Optimierung der Individualprävention.
Auch wenn diese individuellen Ansätze komplexer und kostenintensiver sind, halte ich sie langfristig für wirksamer und nachhaltiger. Hier differenziert vorzugehen, wird ein Qualitätsmerkmal moderner Sozialversicherung sein.
Welche Rolle spielt Innovation, wie digitale Lösungen oder KI bei der Entwicklung von Präventionsstrategien?
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) gehört sicherlich auch zu den großen Herausforderungen unserer Zeit und damit natürlich auch für die Unfallkasse. KI unterstützt uns zunehmend dabei, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen und gezielt Prävention zu betreiben – etwa durch die Analyse von Unfallgeschehen. Der Unterschied zwischen Automatisierung und echter KI ist vielen noch nicht bewusst: Während Automatisierung vordefinierte Aufgaben übernimmt, kann KI lernen, mitdenken und uns Entwicklungsschritte erklären. Diese Lernfähigkeit birgt enormes Potenzial, wirft aber zugleich ethische Fragen auf – besonders, wenn die Lernprozesse für uns nicht mehr vollständig nachvollziehbar sind. Die DGUV reagiert darauf vorausschauend mit der Einrichtung einer Ethikkommission, die diese Entwicklungen kritisch begleitet.
Ich sehe die KI als hilfreich an, sowohl in der medizinischen Diagnostik als auch in vielen anderen Prozessen. Aber sie kann und darf menschliche Entscheidungen nicht ersetzen, sondern soll uns lediglich unterstützen.
Das Thema Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Transformation befindet sich für mich längst auf der Lösungsebene – wir gestalten diesen Wandel aktiv mit und sind mittendrin. Der Versuch, ihn aufzuhalten oder sich ihm zu entziehen, ist nicht zielführend. Stattdessen gilt es, die Chancen zu erkennen und die Entwicklungen gezielt zum Wohle unserer Versicherten einzusetzen.
Die KI in der Medizin beziehungsweise Arbeitsmedizin birgt für uns große Chancen gerade auch im Hinblick auf die Prävention. Ich denke da an die Möglichkeiten, die die KI zum Beispiel bei der Diagnose von Lungentumoren oder Hautkrebs bietet.
Wie kann Forschung dabei konkret unterstützen und vor allem, welche Rolle spielt sie auch für Sie bei der Präventionsarbeit?
Forschung hilft uns, Ursachen von Unfällen und Berufskrankheiten zu erkennen und gezielte Prävention zu ermöglichen. Damit Forschung wirksam und relevant bleibt, muss sie unabhängig, ergebnisoffen und frei von politischen Einflüssen durchgeführt werden. Ebenso wichtig ist der kontinuierliche Dialog zwischen Forschung und Praxis – wie er am IPA aktiv gelebt wird – um Erkenntnisse wirksam in Bildung, Verwaltung und Betrieben zu integrieren.
Dabei können wir uns auf die Institute der DGUV – das Institut für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA), das Institut für Arbeitsschutz (IFA) sowie das Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) als starke Partner verlassen. Ihre unterschiedlichen Schwerpunkte sind gezielt auf die Bedarfe der Unfallversicherungsträger abgestimmt. Zugleich erlebe ich immer wieder, wie sie sich ergänzen und Synergien schaffen, wo es möglich und sinnvoll ist.
Mir war es sehr wichtig, kurz nach meinem Start als Geschäftsführer der Unfallkasse NRW, die Institute der DGUV zu besuchen und kennenzulernen. Dabei wurde schnell deutlich, dass alle Einrichtungen – ob in Forschung, Technik, Ausbildung oder Lehre – ein gemeinsames Ziel verfolgen, aber jeweils mit eigenem fachlichem Fokus und eigenständigem Ansatz. Jedes Institut hat an seinem Standort seine spezifische Daseinsberechtigung und trägt auf seine Weise zur Arbeit der gesetzlichen Unfallversicherung bei. Für uns als größte Unfallkasse ist es ein großer Gewinn bei den Fragen zu Entschädigung und Prävention, auf diese vielfältige Expertise innerhalb der DGUV-Welt zurückgreifen zu können.
Wie fließen aktuelle Forschungsergebnisse in die Gestaltung von Präventionsstrategien und Schulungsprogrammen ein?
Die bei uns genutzten Forschungserkenntnisse fließen in erster Linie in unsere allgemeinen Präventionsangebote und Beratungsleistungen ein. Es handelt sich dabei nicht um einzelne, spektakuläre Studien, die direkt eine strategische Neuausrichtung bewirkt hätten, sondern um eine Vielzahl kleiner Bausteine, die sich in der Summe als äußerst wertvoll erweisen. Diese Erkenntnisse nutzen wir, um Handlungsempfehlungen für die Praxis abzuleiten oder sie über Gremienarbeit in technische Regeln und Regelwerke einzubringen.
Ein gutes Beispiel sind unsere Kooperationen mit dem Fachbereich Feuerwehr oder der Abfallwirtschaft. Hier konnten Ergebnisse zu den physischen und psychischen Belastungen von Beschäftigten in neue Regelungen einfließen. Solche Entwicklungen betreffen auch Institutionen wie die Unfallkasse NRW – teils direkt, teils indirekt. Insgesamt zeigt sich, wie wichtig es ist, wissenschaftliche Ergebnisse kontinuierlich in die Präventionsarbeit zu integrieren. Die gezielte eigene Forschung mit unmittelbarem strategischem Einfluss kann und wird perspektivisch sicher noch weiter ausgebaut werden.
Sehen Sie die Forschung der gesetzlichen Unfallversicherung für die Zukunft gut aufgestellt? Wo gibt es aus Ihrer Sicht möglicherweise Optimierungsbedarf?
Aus meiner Sicht sind wir forschungsseitig sehr gut aufgestellt. Mit den vorhandenen Instituten und der Hochschule der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (HGU) verfügen wir über eine ausgezeichnete Struktur, die unseren Bedarf an wissenschaftlicher Unterstützung in der Präventionsarbeit bestens abdeckt. Besonders positiv erlebe ich die Zusammenarbeit mit dem IPA – dem Institut für Prävention und Arbeitsmedizin –, mit dem wir in verschiedenen Projekten seit Jahren gut zusammenarbeiten. Hier bewährt sich unter anderem die medizinisch-wissenschaftliche Expertise des IPA. Damit erhalten wir qualitativ hochwertige und anwendungsorientierte Forschungsergebnisse für die jeweiligen Fragestellungen.
Gerade im Bereich der Feuerwehr, wo es immer wieder um die Untersuchung von spezifischen Belastungen geht, haben wir regelmäßig produktive Berührungspunkte. Die Kooperation ist sehr konstruktiv und liefert wertvolle Erkenntnisse – zum Beispiel inwieweit Feuerwehreinsatzkräfte stärker gegenüber Gefahrstoffen exponiert sind als die Allgemeinbevölkerung und wie richtig angelegte Schutzkleidung vor Belastungen schützen kann. Auch im aktuellen Projekt zur Exposition von Einsatzkräften bei Vegetationsbränden kann das IPA auf unsere Unterstützung bauen. Die aus diesen Projekten resultierenden Empfehlungen helfen, die Tätigkeit als Feuerwehreinsatzkraft in der Praxis noch sicherer zu machen.
Gleichzeitig sehen wir, dass es durchaus herausfordernd sein kann, Forschungsergebnisse in die praktische Präventionsarbeit zu überführen. Hier haben wir verschiedene Möglichkeiten: Einerseits erfolgt der Transfer direkt über konkrete Handlungsempfehlungen, die aus Forschungsprojekten abgeleitet werden. Andererseits fließen neue Erkenntnisse in entscheidungsrelevante Gremien des Arbeitsschutzes ein – sowohl auf Ebene der Unfallversicherungsträger als auch auf staatlicher und wissenschaftlicher Ebene. Die breite und aktive Mitarbeit des IPA in diesen Gremien stellt sicher, dass Forschungsergebnisse systematisch Eingang in Regelwerke und Maßnahmen finden.
Das bedeutet, wissenschaftliche Erkenntnisse gezielt aufzubereiten und praxisnah umzusetzen – mit dem klaren Ziel, die Präventionsarbeit der Unfallversicherungsträger spürbar zu stärken. Ich bin überzeugt, dass wir – gemeinsam mit Partnern wie den Instituten der DGUV – dabei einen wertvollen und nachhaltigen Beitrag leisten.
Das Interview führten
Prof. Dr. Thomas Brüning und Dr. Monika Zaghow, IPA