"Betriebsbesichtigungen sind ein Türöffner"

Überwachung und Beratung sind Kernaufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung. Nach welchen Kriterien werden Betriebe ausgewählt? Wie verläuft eine Besichtigung? Antworten gibt Dr. Roland Portuné von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).

Herr Dr. Portuné, aus welchem Grund machen die Unfallversicherungsträger regelmäßig Betriebsbesichtigungen?

Portuné: Die Unfallversicherung hat den gesetzlichen Auftrag, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren mit allen geeigneten Mitteln zu verhindern und für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Überwachung und Beratung sind zentrale Elemente, um diesen Auftrag umzusetzen. Sie sind elementar für die Tätigkeit der Präventionsdienste und sie sind ein „Türöffner“ zu den Betrieben. Durch die Betriebsbesichtigung werden auch Betriebe und Einrichtungen erreicht, die nicht von sich aus aktiv die Beratung anfordern. Mit Betriebsbesichtigungen zeigen die Unfallversicherungsträger gerade dort Präsenz, wo der Präventionsbedarf besonders hoch ist. Dabei werden Betriebe und Bildungseinrichtungen überprüft mit dem Ziel, Sicherheit und Gesundheit zu optimieren und die Betriebe dabei zu unterstützen. Überwachung ist also immer eng mit Beratung verbunden oder auch mit weiteren Präventionsleistungen wie zum Beispiel Qualifizierungsmaßnahmen, die wir den Betrieben dann bedarfsorientiert anbieten können.

Betriebsbesichtigungen sind ein wichtiges Instrument der betrieblichen Prävention. Im Jahr 2022 haben die Berufsgenossenschaften und die Unfallversicherungsträger der Öffentlichen Hand 204.566 Unternehmen besichtigt. In Deutschland sind circa 3,2 Mio Unternehmen bei den Unfallversicherungsträgern registriert. Reicht die Zahl der Besichtigungen aus?

Portuné: Es ist wichtig, diese Zahlen richtig einzuordnen. Die Personalressourcen der Unfallversicherungsträger sind gar nicht für eine flächendeckende Besichtigung in Deutschland ausgelegt und müssen das auch nicht sein. Je nach Branche und Unternehmen gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der Unfallgefahren und Gesundheitsrisiken. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen machen daher Stichproben und schauen sich gezielt die Betriebe und Bildungseinrichtungen an, die erhöhte Risiken für Sicherheit und Gesundheit haben und mehr Betreuung brauchen.

Die Besichtigungen spiegeln auch nur einen Teil der Kontakte zu Unternehmen und Einrichtungen wider. Neben den von ihnen initiierten Besichtigungen werden die Unfallversicherungsträger auch auf Anforderung der Unternehmen aktiv. Das nennen wir „Beratung auf Anforderung“. Daher sind auch "Betriebsbesuche" und "Betriebskontakte" wichtige ergänzende Kennzahlen.

Wie viele Betriebsbesuche führten die Unfallversicherungsträger 2022 durch?

Portuné: Betriebsbesuche umfassen neben den besichtigten Unternehmen auch Beratungen auf Anforderung vor Ort. Mit 369.040 Betriebsbesuchen vor Ort wurden ebenso viele Unternehmen erreicht, was circa 12 Prozent der Unternehmen umfasst. Die Betriebskontakte wiederum sind noch vielfältiger und schließen darüber hinaus auch Unfalluntersuchungen, Berufskrankheiten-Ermittlungen sowie schriftliche und telefonische Beratungen mit ein. Mit 919.502 Betriebskontakten wurden im Jahr 2022 schätzungsweise maximal 29 Prozent der Unternehmen erreicht.

Kommen die Unfallversicherungsträger immer unangekündigt oder mit Ankündigung?

Portuné: Sowohl als auch. Am erfolgreichsten ist eine sinnvolle Kombination aus beidem. Bei angekündigten Besichtigungen kann im Vorfeld sichergestellt werden, dass wichtige Ansprechpersonen auch tatsächlich vor Ort sind, zum Beispiel um zu klären, wie die Organisation von Sicherheit und Gesundheit sowie die Beurteilung der Arbeitsbedingungen gewährleistet werden. Viele Besichtigungen ohne vorherige Terminvereinbarung sind das Ergebnis von datenbasierten Risikobetrachtungen zu Unternehmen, Wirtschaftszweigen oder spezifischen Arbeitsstätten. Andere dienen der Ermittlung nach Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten oder resultieren aus Beschwerden. Unser Ziel ist es, Unternehmen mit ihren Beschäftigten dort abzuholen, wo sie aktuell in Sachen Sicherheit und Gesundheit stehen. Sind Betriebe statistisch auffällig, so werden sie gezielt überwacht und beraten. Sind sie bei der Besichtigung auffällig, orientieren sich Überwachung und Beratung an der vor Ort angetroffenen Situation.

Was können Unfallversicherungsträger tun, wenn Veränderungsbedarf besteht, aber keine Einsicht dazu vorhanden ist?

Sofern es Defizite gibt, kommt es auf die individuelle Motivation zur Optimierung an. Ziel ist es immer, überzeugend zu erklären, warum etwas verändert werden muss. Gibt es im Einzelfall keine Einsicht in notwendige Nachbesserungen von Arbeitsschutzmaßnahmen, haben die Aufsichtspersonen die Möglichkeit, Maßnahmen durchzusetzen oder Sanktionen zu verhängen – wie zum Beispiel Zwangs- und Bußgelder. Ziel eines ganzheitlichen und nachhaltigen Aufsichtshandelns ist aber immer, die Unternehmenskultur mit Blick auf die Sicherheit und Gesundheit weiterzuentwickeln und damit der Vision Zero näher zu kommen. Dieser Weg führt über echte Beteiligung des Unternehmens durch Einsicht bei den Beteiligten.

Die Unfallversicherungsträger können nicht flächendeckend alle Betriebe aufsuchen. Nach welchen Kriterien wählen sie aus, wen sie besichtigen?

Portuné: Die Unfallversicherungsträger nutzen digitale Unterstützung. Die Vernetzung verschiedener Bereiche ermöglicht es, statistische Kennzahlen, zum Beispiel zu Entschädigungsleistungen oder über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen, zusammenzuführen. So bekommt man Hinweise zu branchen- und betriebsspezifischen Gefährdungsschwerpunkten. Damit lässt sich dann eine bedarfs- und risikoorientierte Überwachung realisieren. Besichtigungen in Bereichen mit einem besonders hohen Risiko für die Versicherten am Arbeitsplatz und einem großen Beratungsbedarf können priorisiert und die Frequenz der Besichtigungen entsprechend angepasst werden.

Wie kann man sich das technisch vorstellen?

Portuné: Algorithmen übernehmen das händische Zusammenführen und Interpretieren der Kennzahlen. Ein trainierter Algorithmus kann zum Beispiel auf der Basis von über 100 Merkmalen die Wahrscheinlichkeit für bevorstehende Arbeitsunfälle in Betrieben einer bestimmten Größe abschätzen. Dabei werden historische Muster und Zusammenhänge gesucht und erkannt, um die Prognosen abzusichern.

Dazu ein aktuelles Beispiel aus der Baubranche: Die BG BAU hat gerade ein Leuchtturmprojekt gestartet, das durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert wird. Mit Hilfe von KI sollen die Unternehmen identifiziert werden, die besonders gefährdet sind, in absehbarer Zeit Arbeitsunfälle zu erleiden. Sie sollen künftig noch gezielter von der BG BAU angesprochen werden können. Das Projekt wurde bei Digitalkonferenz „re:publica“ 2023 in Berlin vorgestellt.

Weitere Informationen zu Überwachung und Beratung in Ausgabe 6/2023 und 9/2021 der Fachzeitschrift DGUV Forum.